Du bist so weit weg

Du bist so weit weg …

Aus dem Blog eines der allerbesten Freunde:

 

 

Da sitze ich. Weit weg, in Bremen. Okay, vorher war ich weiter weg. Bin um die halbe Welt geschippert, aber trotzdem bin ich weit weg. In Bremen. Sitze zusammen mit Kommilitonen.

Es ist Sonntag, aber ein Referat will vorbereitet werden. Morgen soll es präsentiert werden.
Per facebook die Nachricht, das du im Krankenhaus bist. Ich les das so nebenbei. Hab wenig Zeit. Konzentrier mich auf Englisch. Kann die Nachricht nicht verstehen.

Ein Anruf. Guter Kumpel. „Hast du gelesen?“ Ich versteh es nicht. Sitz an der Ausarbeitung.

Fahre nach Hause. Telefoniere mit meiner Ma. Es ist was passiert. Versteh es nicht. Muss gleich nochmal lesen. Schlimmes, ja. Muss das verstehen.

Nochmal die Nachricht lesen. Krankenhaus. Uniklinik. Intensiv. Zysten. Läukemie. Lungenentzündung. Versteh es nicht. Kann es nicht verstehen. Will es nicht verstehen.

Nochmal und nochmal lesen. Was soll ich nun tun? Was kann man tun?

Montag. Referat halten. Funktionieren.

Meinem Lehrer anvertraut. Rät mir, aktiv zu werden. Mir die Zeit zu nehmen welche ich brauche. Für meinen Freund da sein.

Ich entscheide mich am Wochenende runterzukommen. Da sind Lehrgänge, Klausuren…

Dienstag. Vorlesung. Immer noch weit weg. Funktionieren. Bei dir sein.
Komme nach Hause. Kurzer Snack.

Dein Bruder ruft an. „Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll…“ L
Gleichzeitig lese ich die Nachricht deiner Freundin „wollt euch anrufen. Es fällt mir schwer…“

tot

Tod

Es kann nicht war sein. Warum? Das darf nicht war sein. Warum?

Funktionieren. Freunde benachrichtigen. Will nicht, das sie es per facebook erfahren.

Nicht war haben. Termine verlegen. Klausuren canceln. Nicht war haben.

Fahre mit dem Zug nach Hause. Nächster Zug. Egal wie teuer. Bahncard vergessen. Egal.

Sitzlatz, Strom, Laptop, ablenken. Bloß nicht war haben.
Vielleicht ist das alles ein böser Scherz.
Vielleicht will jemand, das wir alle auf jeden Fall heute kommen.
Deine Abschlussprüfung.
Überaschungsparty.

Ein Freund kommt. Ist mir extra entgegengefahren. Mich abholen. Begleiten.

Kommen an. Meine Freundin ist da. Will mich auffangen. Muss stark sein. Will stark sein. Kann es nicht fassen, nicht begreifen.

Fahren zum Jugendhaus. Kirche ist geöffnet. Viele Gesichter. Kenne einige nicht. Schön das so viele da sind. Gibt mir Kraft. Ablenkung. „Wenn was ist…“ Zig mal gesagt. Immer so gemeint.
So sieht meine Art der Bewältigung aus. Für andere da sein. Langsam beginnen zu begreifen.

Ich bin jetzt zwar wieder da, aber du bist so weit weg.

Mittwoch. Wir verabreden uns um in der Gruppe deiner zu Gedenken. Besuchen deine Familie. Aufgelöst. Ihnen fehlt der, der sie zusammenhält. Dein Bruder schlüpft in die Rolle. Versucht es. Versucht stark zu sein. Versucht für deine Eltern da zu sein. Kann es nicht begreifen. Will es nicht begreifen. Mauert. Kann das verstehen. Die Mauer deines Vaters ist schwach, beginnt zu zerfallen. Deiner Mutter gehts dreckig. Klammert sich an Erinnerungen. Weint.

Gehen mit deinem Bruder in den Garten. Er erzählt uns von dir. Von deinem Leidensweg. Es hilft. Hilft zu begreifen. Es zu fassen. Verstehen kann ich es trotzdem nicht. Mit dem Ohr, ja. Mit dem Herzen? Nein.

Stadtwald. Ein Freund ist extra deinetwegen gekommen. Ihr kanntet euch noch länger als wir uns. Auch für ihn bist du der beste Freund. Wie für so viele. Ich kenne ihn über dich. In der Clique haben wir so viel gemeinsam gemacht. Nun grillen wir nochmal. So wie wir es auch gemeinsam machten.
Denken an dich. Reden über dich. Verstehen es nicht.

Wir werden immer mehr. Dein Bruder kommt auch. Weitere Leute machen lange Zugreisen. Wollen mit uns trauern. Wollen begreifen. Verstehen.

Donnerstag. Treffen uns im JAM. Warst lange dort. Hast viel dort getan. Beginnen zu planen. Planen deine Beerdigung. Keine Zeit zu verstehen. Eine Aufgabe. Gut. Lenkt ab. Muss es nicht verstehen.

Abends in den Pub. Waren oft dort. Wieder Leute treffen, denen ich die Botschaft überbringe. Alle sind betroffen. Keiner wills begreifen. Verstehen.

Du fehlst uns allen. Du fehlst mir. Bist so weit weg.
Ich werd mich immer fragen, was du mir raten würdest. Ich werd sicherlich irgendwo ganz tief drinnen wissen, was. Da drinnen, da lebst du weiter. In unser aller Herzen lebst du weiter.

Ich bin froh, das wir so viel Zeit miteinander verbringen durften. Das ich dich als meinen Freund haben durfte.
Danke für alles.

Eintrag aus dem Blog von Matthias aus dem Juli 2012 , hier eingestellt mit seinem Einverständnis im Februar 2017

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